Blog 1 – 500 Meter

Mir fällt was auf den Kopf. Ich sehe durch mein Fenster, vorn heraus auf die Straße. Das Wetter ist von November bis Februar für den Winterschlaf vorgesehen, aber leider bin ich kein Braunbär, eher eine graue Maus. Das Gebäude gegenüber ist grau, allerdings in verschiedenen Nuancen – von hellgrau bis dunkelgrau. Vielleicht gibt es gar ein borsiggrau oder zumindest ruhrgrau. Der Himmel zeigt keinerlei Zuversicht in Richtung Zuversicht. Es ist kalt, der Wind bewegt die paar übrig gebliebenen Blätter an den rindenkranken Bäumen. Ich ziehe meinen einzigen Vorhang zu. Die Gardine dient als Schwamm für den Zigarettenqualm, den ich unentwegt verursache. Aua. Schon wieder fällt mir was auf den Kopf. Ist es eine Idee, ein Plan? Ich schüttele meinen Kopf, damit sich die Gedanken in eine Ecke verkriechen können, nachdem sie durcheinander wirbeln wie in diesen Schnee-Schüttelgläsern, und dann samt landen, auf dem Boden liegenbleiben.

Ich verlasse die Wohnung, gehe hinaus auf die Straße. Ja, das ist es. Das ist der Plan. Allerdings sollte ich auf meine Gesundheit achten und springe voller Energie zurück ins Haus, ziehe mir eine Hose an, schlüpfe in die hohen Schuhe, lege einen Schal um, drücke meine Hände in Handschuhe, zwänge mich in den Wollpullover, den mir eine bekannte mal vor 30 Jahren gestrickt hatte, werfe meinen Mantel über, schraube mir einen warmen Hut auf den Kopf und schreite hinaus in die Wirklichkeit der Umgebung. Ich treffe auf meine Aschentonne, die halbschräg auf Leerung wartet. Ich richte sie gerade. Der Ordnungssinn, die Ästhetik des Stadtbildes, liegen mir am Herzen. Ich werfe noch einen Blick hinein. Kein Fremdmüll, keine Leichenteile. Der Tag fängt gut an.

Ich entscheide mich, nach rechts zu gehen. Links ist Sackgasse. Das ist deprimierend. Es geht nicht weiter. Also rechts, vorbei an der Plakatwand, die man eigentlich nur als aufmerksamer Fußgänger bemerkt, eine bunte Fläche zwischen den Grautönen, die mir die besten Filme aller Zeiten anbietet.

Ich betrete den Kiosk „Kalle Hoesch“, sage „Guten Tag!“ und gehe wieder raus. Mir will nicht einfallen, was ich wollte, ob ich etwas kaufen wollte. Vielleicht werde ich ja dadurch als netter Nachbar bekannt, als jemand, der täglich in die Geschäfte kommt und einen „guten Tag“ wünscht, ohne etwas zu kaufen. Ich verwerfe diesen Gedanken und lass mich weiter treiben, entlang einiger Geschäfte, die ich nicht betrete. Die fünfhundert Meter Entfernung von meinem Ziel beunruhigen mich. Werde ich sie zu Fuß absolvieren können, ohne der Erschöpfung anheim zu fallen? Ich schaue flüchtig in die Gesichter der Menschen, die an Haltestellen stehen oder mit klaren Zielen an mir vorbeilaufen. Hier wohne ich also, inmitten anderer Zeitgenossen mit all ihren Biografien, Geheimnissen und Hintergründigkeiten. Um die Gedanken zu ordnen, bleibe ich an einer Litfaßsäule stehen, die unbedingt will, dass ich einen Volksmusik-Event besuche oder eine Reise ins Zillertal buche. Zwischen all den Großplakaten kleben ein paar lilafarbene Zettel, die auf Kunst-Aktionen im Viertel hinweisen. Ich versuche nicht, das zu verstehen, habe längst eine halbe Zigarette geraucht und frage mich, ob es Fleiß und Service sind, die einen Dönerimbiss 24 Stunden geöffnet halten? Oder wird hier anderen Berufen nachgegangen? Vielleicht trifft sich hier eine „Interessengemeinschaft“ morgens um vier, um „Aktionen im Viertel“ vorzubereiten – die Kunst der verdeckten Verschleierung.

Ich biege um die Ecke und meine Erschöpfung hält sich in Grenzen, werde diese sportliche Aktivität in meinen Bewegungskalender eintragen.

Ich sitze in einer Sitzung von Borsig11 und trinke Kräutertee. Draußen zerflügt die U44 wieder den Borsigplatz in zwei gleiche Teile. Stofffetzen flattern im Wind. „Auf gute Nachbarschaft“ meine ich, darauf lesen zu können.