Der Malteser Hilfsdienst trägt das Logo des Inselstaates Malta, das Malteser Kreuz. Sie kommen, wenn Not ist – an Mann oder Gerät. Wer kennt nicht den Aquavit mit dem Kreuz, der schon manchen Hardcore-Säufer in die Kissen gestreckt und manch einen Digestif-Liebhaber ins Schütteln gebracht hat. Was muss das dann für eine Insel sein? Dazu kommt die britische Vergangenheit, die man spät, aber nicht ganz abschütteln konnte. Links drehen sich dort nur der Straßenverkehr und der Joghurt.
So klein das Land – so klein die Einzelhandelsfachgeschäfte, in denen man einzelne Tempotaschentücher ebenso kaufen kann wie Mini-Portionen Waschmittel und russisches Mineralwasser. Kauft man eine Banane, wird diese in Plastik gewickelt, um in eine dünne Plastiktragetasche gestopft zu werden, die wiederum von einer weiteren Plastiktüte gehalten wird. An einem Grashügel, der den Wind aufwärts aufhält, verkleben sich hunderte dieser Plastiktütchen als Straßenrandinstallation im kunstarmen Ländchen zwischen Libyen und Sizilien.
400.000 Einwohner leben mit 800.000 fahrenden Autos und einigen Hunderttausend liegenden Booten, ungezählten Katzen und einem auf mittlerer Geschwindigkeit festgelegten Betriebssystem. Auf den paar gerade scheinenden Straßen, frisch asphaltiert oder runderneuert, sausen neureiche Pappnasen in ihren tiefer gelegten, auspufffreien Wundertüten-Lamborghinis. „Es gibt hier keine Kriminalität“, sagt der durch-ge-turnte Einwohner, „außer Diskriminierung“, sagt der Afrikaner, der ohne Bier nichts unternimmt. Wer hier einen Banküberfall veranstaltet, ist entweder ein durch geknallter Schauspieler einer Privatschule oder total bescheuert, denn man kennt sich hier, ist sicherlich auch irgendwie verwandt miteinander wie die Isländer in Island. Und auch die Mädchen sind hier do dick wie die in Brighton oder Newcastle-upon-Tyne, aber nur halb so groß.
Wenn der Malteser einen Ausflug macht, dann gerne mit den Kindern und Oma in einen Freizeitpark irgendwo auf der Insel, wo man sonst hätte ein kleines Stahlwerk bauen können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Da gibt es Klettergerüste und Wi-Fi, Fast-Food und Spielgeräte, die nach Alter und Gewicht zu benutzen sind. Draußen steht der Imbiss-Wagen mit kräftiger Zwischendurch-Nahrung. Wer keinen Jogging-Anzug trägt, ist eine arme Sau.
„Gadaffi“, sagt einer, „hat uns gesagt, er könne uns locker komplett mit Energie versorgen. Ganz Europa – aus der Wüste – Sonnenenergie.“
Ein Mädchen auf einem Fahrrad kommt mir entgegen und ruft: „Gadaffi is on the toilet!“ Und die Jungs laufen um uns herum skandieren: „Gadaffi! You are the soldiers of Gaddafi“. Also hat man doch den britischen Humor der Insel auf der Insel.
Unsere Gastgeberin trägt allzeit ein Schultertuch, mit dem man Thunfische fangen könnte. Ihre Augen flitzen hin und her wie die Bälle in einem alten Videospiel. Sie sind gleichzeitig überall und wollen nichts verpassen. Auch der sich selbst als „Faktotum“ bezeichnende Inselkenner Jesmond macht den Eindruck, als sei seine Aufmerksamkeit eine gleichzeitige für alles gleichzeitig stattfindende, mindestens um ihn herum. Ist das ein Erbe aus der Geschichte der Insel, die von allen Eroberern mal überrollt wurde. Also immer auf „Achtung: Wer kommt jetzt?“
Jetzt sind es wir Deutschen, die ein bisken Kultur verbreiten wollen. Aber scheinbar sehen wir aus wie Barbaren oder zumindest wie Deutsche. Fragt doch einer, was Hitler so macht.
In einem Park, der sich vor lauter Schönheit der Langeweile hingibt, soll es passieren – der Event. Und wir warten fröhlich auf die Teilnehmer aus Malta. All die Mimen und Tänzer, die Turner und Spieler, all die, die sich sehnen nach ein wenig Welt. Aber wir sehen nur in ein paar Gesichter, die ahnungsloser nicht dreinschauen können als sie es bereits tun. Denken diese Köpfe, dass wir den Garten umgraben, die alten Mauern einreißen, die Bäume fällen, Katzen würgen, Kinder schänden, Spielgeräte einschmelzen, Blumen sägen, Sträucher abfackeln und das Ganze dann Performance nennen? Ja, das denken sie, denke ich.
In dem Moment denke ich an Wertherbruch, an die Ostsee, an saftige Wiesen und eine wiederkäuende Kuh. Das beruhigt mich, wäre ich doch sonst cholerisch mindestens an einem dieser Bäume hochgerast, um den Wipfel zu köpfen, wäre ich katzengleich auf ihre Köpfe gesprungen, um sie zu enthaaren. Stattdessen denke ich daran, irren zu können. Vielleicht sind diese Menschen nur fehlgeleitet, wie ein weit gereister Malteser mit grau-gelocktem Haar mir verriet.
Stattdessen sehe ich hinaus aufs Meer, sehe die alten Steine, die zu Gebäuden zusammengesetzt wurden.
Wir machen einen Ausflug quer über die Insel zur Ablagestelle der Fähren, um nach Gozo überzusetzen. Hier zeigt uns Jesmond Orte der Ruhe, ein kleines Tal mit einer Quelle und einer Minikapelle. Wir tuckern eine halbfertige Straße hinunter zum Meer, Kulisse für Filmszenen, die bald für Touristen zugänglicher gemacht wird. Eine Kathedrale mitten auf dem Land mit prunkvollen Inneneinrichtungen zeigt, dass Religion auf Malta präsent ist wie kaum woanders. Scheiden lassen kann man sich hier immer noch nicht. Vielleicht sind sowieso fast alle miteinander verwandt wie aus Island. Scheint so, wenn man als Inselmensch über Jahrhunderte auf der Insel bleibt.
Wir essen „maltesischen Pastateller“, erfunden für Handwerker mit Appetit wie ausgelaugte Zehnkämpfer. Nebenan ein Markt, wie man ihn überall auf der Welt findet, wo es Touristen gibt: Hüte, Hüte, Taschen, Taschen, Gürtel, T-shirts, Tüdelkram und Batterien. In einer schmalen Gasse in einem Hinterhof entdecken wir das Gozo-Heiligtum einer alten Frau, die dort wohnt und genau dort seit Jahrzehnten klöppelt, im Schatten der alten Gemäuer. Sie erzählt von ihrem Handwerk und davon, dass sie dies immer machen werde und ihre Stücke seien alles Einzelstücke nach eigenem Design – kleine Tischtücher, Vasenuntersätze oder einfach Mitbringsel.
Ein Mann mit weißem Haar und einer Baskenmütze kommt auf mich zu – elegant gekleidet, der Herr Professor. So schaut er aus und direkt erzählt er mir sein Leben in kurzen klaren Sätzen. Er sei kein Schauspieler, aber in immer in der Nähe der Kunst gewesen. Er habe als Filmproduzent Malta einen Standort verpasst. Jetzt ist er Regisseur und Theaterproduzent, gerade zurück von einem Gastspiel in München. Und überhaupt, sei er Mitglied von einigen Organisationen, die sich gegen Zensur und Theaterschließungen ins Zeug legen. Er fragt mich nach meiner Wunschvorstellung für das kommende Wochenende in diesem Park. Welche Zuschauer wolle ich haben. Ich schweige verblüfft, sage, ich sei hier nicht der Organisator, sondern eher für das zuständig, was das Publikum sehen soll, obschon diese Zuständigkeit eine rein theoretische ist, da ja nicht klar sei, ob jemand auftreten würde und wenn, wie viele wann.
Nun erklärt er mir, wie man das angehen müsste. Es gäbe zum Beispiel in der Nähe den Malteser Hilfsdienst und der würde sich um ehemalige Drogenabhängige kümmern. 50 Leute könne man so rekrutieren – als Publikum. Zudem sei dort drüben ein Sanatorium, in dem viele Menschen lägen, die geistig und körperlich behindert seien. Diese Menschen bräuchten so etwas. Sie kämen ja nicht in Kontakt mit so etwas.
Dazu die Alten und Vergessenen, die kein Heim mehr haben, keine Wohnung, sondern in diesem Krankenhaus vegetieren. Für sie wäre es eine tolle Gelegenheit. Warum spräche man diese Leute nicht an. Und auch Kontakte zu Künstlern könne er anstoßen. Es gäbe eine private Dramaschool mit 50 Leuten. Es gäbe den Poeten-Club und ein paar bekannte Schauspieler. Ich nicke, sage ihm nochmal, dass ich der falsche Ansprechpartner bin.
Er ruft Jesmond von der Organisation und diktiert ihm die Namen und Adressen auf ein Papier. Jesmond schaut resigniert. Dies alles einem Tag vor der angekündigten Vorstellung. Angekündigt – allerdings wo? Es gab weder ein Pressegespräch, noch hat irgendjemand von der Insel Fotos gemacht. Also vielleicht kommt niemand oder wenigstens die engsten Verwandten. Das wäre auf der Insel immerhin schon eine Anzahl, die Publikum bilden könnte.
Im Hotel Milano Due hat ein Rezeptionist Dienst, der aussieht wie ein Rezeptionist. Deutlicher kann man nicht wie ein Rezeptionist aussehen, allerdings wie ein Nachtportier, also Nachdienst in entsprechendem Äußeren. Anzug, beleibt, Brille, vorgeschobene Unterlippe, ready to be ready.
Hotel- und Hauspersonal scheint auf Malta dringend gesucht. Fast überall an den Hotels sind Stellenangebote ins Fenster geklebt. Meist sucht man Nachtportiers oder Empfangskräfte, aber auch Zimmermädchen und House Boys, was immer das sein mag.
Die Apotheke ist klein. Vorn gibt es Kosmetika, ab der Kasse Arzneien. Die kleine Verkäuferin ist so freundlich, dass man bei manchem kleinen Wehwehchen bereits nach der Begrüßung geheilt ist. Sie fragt nach den Problemen, die man habe. Ich weise auf meinen Kopf, dann auf den ganzen Körper und sage „Aspirin“. Sie schaut, als wolle sie mir weiterhelfen. Nebenan sitzt in einem kleinen Raum die Ärztin, die dem wahren Grund auf den Grund gehen könnte. Ich verzichte, da ich meinen Leib kenne.
Das Frühstück im siebten Stock ist deshalb zu empfehlen, da es im 7. Stock stattfindet und man von oben auf die kleinen Boote schauen kann. Ansonsten ist das Frühstück das eines 3-Stene-Hotels: Gekochte Eier, Schlabberbrot, das man aber per Toaster in was Festes verwandeln kann, Käse, Wurst, jeweils eine Sorte, Marmelade, die aus einer fruchtfreien Masse besteht, Kaffee aus einem Automaten, der heißes Wasser und weißen Schaum ausspuckt, Müsli und Automatensaft.
Die dicken Mädchen von Malta sitzen auf Bänken, fahren mit dem Bus, essen Burger, haben Kinder, spazieren an den Cafés vorbei, kichern, tragen schwarz, sind gleichgroß.
Das Rotlichtviertel und die Ausstellung und der Kongress
Längst abgeschafft – es gibt kein Rotlichtviertel mehr in Malta. Die Straße hat aber noch den Flair und hier ist der Ort unseres kleinen Kongresses zum Projekt, Hausnummer 60A, im Quartier der Liberaldemokraten. Dort – mit dem kleinen Raucherbalkon – stehen Stühle, ein Tisch, hängt eine Leinenleinwand. Die Geminarie-Group stellt sich vor, wir stellen uns vor, der Council von Floriana, dem Stadtteil Vallettas mit 2500 Einwohnern spricht. Er war als Soldat in Dortmund und kennt Brackel und Aplerbeck. Wir zeigen Dias und Videos. Die polnischen Gäste erläutern die Aktionen, die im Mai in Lodz folgen sollen. Wir gehen zum Lunch. Anschließend wir eine Ausstellung eröffnet, wie ich sie noch nie erlebt habe. Es ist sensationell, wie hier Unverständnis und Naivität zusammenkommen. An der Wand hängen ein paar Fotos in Bildschirmschoner-Anmutung. Auf dem Tisch liegen gemalte Bilder – Haus am Hang, Boot auf Wasser. Sprachlosigkeit macht sich breit. Draußen scheint die Sonne und man unterhält sich.
Die letzten vier Tage bestehen aus Warten und schauen, aus Lunch und Dinner. Wir machen Filmaufnahmen, werden auf eigenen Antrieb hin so kreativ, dass wir noch nachts über Linsen sprechen. Am Samstag findet die Präsentation unseres nicht zustande gekommenen Workshops statt mit 3 Musikbands, einigen Ad-hoc-Teilnehmern aus dem Umfeld der Organisatoren, einer Gruppe Kongolesen, die tanzen und trommeln, mit einem wandernden Mandolinenspieler, zwei Hiphoppern, einem Industrial-Music-Dancer und uns selbst. Die Ansage für das Publikum: Willkommen zum freien Feld der Fantasie und Improvisation. Wir reisen sonnengefärbt ab und wissen, warum man eher als Urlauber nach Malta kommt, denn als „wilde Künstler“.