Landschaft mit Tänzern – Lebende Gemälde abseits postindustrieller Hinterlassenschaften

Dass es im Ruhrgebiet zahlreiche Bauernhöfe gibt, wird zumindest denen auffallen, die sich aus ihrem City-Kreis heraus bewegen. Man ist geradezu umzingelt von Nutzflächen aller Art. Ob in Dortmund-Grevel oder Gelsenkirchen-Beckhausen, hin und wieder muss man einen Trecker überholen. Links und rechts weiden Schafe, Pferdekoppeln gibt es en Masse. Kuhauftrieb allerdings findet man nicht, auch keine Eselskarren und frei laufende Schweinchen, die quiekend im Schlamm baden, sind auch eher selten. In den letzten Tagen kann man aber ein paar Tänzer und Musiker sehen, die sich auf Höfen zu schaffen machen.

Wortkarge Wetterkenner

Der große Bauer steht auf seinem abgeernteten Weizenfeld am Mechtenberg in Essen, schaut in die Landschaft, dann zum Himmel. Er nickt und hebt den Daumen. An manchen Tagen will er damit sagen: „Gut, dass es regnen wird.“ Jetzt und in diesem Sommer meint er: „Gut, dass es nicht regnen wird.“ Der Fachmann braucht in diesem Fall kaum Text. „Wenn jemand sich mit Wetter auskennt, dann der Bauer“, denkt der Cellist, der seinen Regenschutz nicht aufbauen muss. Es spielt auf einer Wiese vor dem Hofladen. Dazu bewegen sich zwei Tänzerinnen links und rechts aus den Büschen und begleiten das Bach-Stück mit sparsamen Bewegungen. Drumherum bleibt tagein, tagaus der Verkehr der A40 und der B 227 auf gleichem Geräuschlevel.

Geben Sie mir noch ein Ei

Der Hofladen ist inzwischen eine Einnahmequelle. Man hat keine Kühe, von denen es im Revier eh immer weniger gibt. Man hat auf Schweine verzichtet, begnügt sich mit Hühnern und einem Streichelzoo, wo es massenweise Bobby-Cars für die Kleinen gibt, die lauter sind als die LKW auf der A40. Ackerbau ist die Hauptarbeit und jetzt sind da für ein paar Tage die Künstler und nutzen Räume und Landschaften, die der Bauer so nicht nutzt: Für Tanz, für sakrale Vorgänge, für Installationen. Das lockt Zuschauer und neue Kunden. Und einer sagt: „Geben Sie mir noch ein Ei!“ nachdem er Kartoffeln und ein paar Pflaumen gekauft hat. Vorher sah er Margarita Nagel, die in der Strohscheune bei mongolischer Musik Luftsprünge und tänzerische Hexereien vollführt hat.

Oma in der Scheune

Und ganz hinten, in der dunklen Ecke, wo altes landwirtschaftliches Gerät lagert, da sitzt eine alte Dame in rotem Kleid mit Hütchen auf einem Bobbycar. Der (gespielte) Bauer putzt ihre Hände, ein Akkordeon-Spieler erzeugt plötzlich schrille Töne. Die Oma will vorwärts kommen, versucht, sich mit dem Kindertrecker zu bewegen. Vergeblich. Und immer wieder bis einer aus dem Publikum ruft: „Lass die Omma!“

Truthahn auf Trantenroth

Auf dem Trantenrother Hof in Witten wimmelt es von frei laufenden Hühnern, Enten, Gänsen und Puten. Der Akkordeon-Spieler sitzt auf einem Stuhl und probt. Eine Pute rückt näher und näher und beginnt mit ihr ein musikalisches Zwiegespräch. Er trifft genau die Tonlage der Truthahnsprache – ein Duo, welches Musik- und Truthahnforscher an einen Tisch bringen müsste.

Landschaftsgemälde

Auf einem flachen Strohwagen sitzen die Frauen, bunt gekleidet. Sie bewegen ihre Oberkörper, Arme, Köpfe – langsam und fließend. Zur Musik von Cello und Akkordeon, die in sie hineinzuschleichen scheint. Im Hintergrund sieht man entfernt das Lanstroper Ei in Dortmund-Grevel, an anderer Stelle das Ruhrtal oder die weiten Felder nach der Ernte. „Wie gemalt in einer heilen Welt, bringt es dem Betrachter ein Gefühl, dass er nur noch selten hat: Freiheit und Ruhe.“ Eine Zuschauerin aus dem Breisgau will es nicht glauben. Sie kennt das Ruhrgebiet aus Prospekten, vom Hörensagen und sieht hier das genaue Gegenteil.

Postindustrieller Ackerbau

Wahrgenommen werden aber nach wie vor hauptsächlich die postindustriellen Hinterlassenschaften, an denen, in denen und um sie herum die Kultur Platz gegriffen hat. Man bespielt die Orte, hübscht sie auf, macht darauf Industrielandschaften. Nicht nur die RuhrTriennale kann dabei längst die ortspezifische Bespielung nicht mehr garantieren. Man hat sich an die Kulisse gewöhnt. Aber auch die Natur greift Raum. Aus allen Ritzen sprießt es, Birken wachsen auf den kleinsten Dächern.

Die Bauern sind jedoch auch vom Strukturwandel betroffen. Man sieht es nicht gleich. Zerrissen wurden die meisten Höfe einst durch die Industrie, Ackerbau und Viehzucht haben sich stark verändert, die Spezialisierung ist einzige Chance, Ertrag zu machen, ob auf Hof Mertin in Dortmund das Obst, auf Hof Schulte in Schwerte das Fleischrind oder auf dem Trantenrother Hof in Witten der ökologische Gemüseanbau.

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