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Taxis am Taksim – Istanbuler Großstadtsymphonie

Wer kann sich zwölf- oder fünfzehn Millionen Menschen an einem Ort vorstellen? Hier im Revier haben wir uns an den Anblick von 80.000 gewöhnt, die sich zu Ballspielen einfinden. Wir können uns ein paarhundert tausend vorstellen, denken wir an die Love Parade. Aus dem Helikopter haben einige schon Millionen gesehen, als sie das Stillleben auf der A40 überflogen hatten.
Hier leben auf 4.435 km² ca. fünf Millionen Menschen, in Istanbul sind es auf 1.830 km² offiziell 12.782.960, geschätzt werden ein paar Millionen mehr.

Verkehr

Aus dem Flieger sieht es übersichtlich aus, das Stadtgeiet von Istanbul. Aus dem Kern erweitert es sich an den Rändern wie ein Kuchen, nimmt man ihn vorzeitig aus dem Blech. Vor dem Ankunftsterminal wartet Fatih. Ich steige in einen klapprigen Klein-LKW und wir brettern über die Autobahn. Bis sich die Straße verjüngt und alles steht, aber nicht still. „In spätestens fünf Jahren haben wir hier Bangkok“, sagt er. „Die Straßen sind für ein paar Fahrzeuge gebaut. 1926 hatte Istanbul knapp eine Millionen Einwohner.“ Es hupt in der Stadt, und zwar immer. „Solltest Du mal nichts hören, dann ist es ein Traum.“

Ritz

November 2009. Ich bin zu Gast beim Amber-Festival für Medienkunst. Der Fahrer bringt mich in mein Hotel, das mit Metropol angegeben war. Wie ich im Internet sah, liegt es im unteren Teil von Beyoglu. Fatih telefoniert und ändert seine Fahrt. Er passiert nach ein paar Worten mit einem Wachmann eine Schranke und stoppt mit der alten Kiste vor der teuersten Unterkunft der Stadt, dem Carlton Ritz, einem hässlichen Gebäude, das auf einem Hügel über vieles hinweg ragt. Uniformierte Hotelangestellte schleppen meinen Koffer von der Ladefläche in die Halle. Ich bin baff und will Fatih fragen, ob er sicher sei, dass es hier sei. Er war weg. Umtänzelt von mehreren Herren, trage ich mich an der Rezeption ein und werde in meine Suite geleitet. Ich packe nicht aus, will erst wissen, ob man mich mit einem Staatschef aus irgendeinem Schurkenstaat verwechselt. Spät erhalte ich eine SMS, alles sei in Ordnung. Ich solle mich wohlfühlen.

Taxi zum Taksim

Es ist mein dritter Aufenthalt in dieser Stadt, die zur einen Hälfte ein modernes Zentrum für alles ist, zur anderen Hälfte das, was man als oriental bezeichnen kann. Nachdem ich widerrechtlich im Zimmer rauche und einen kostenlosen Blick über den beleuchteten Bosporus wage, lasse ich mir ein Taxi heran pfeifen. Der Hotelmann lässt sich Namen und Nummer geben – zur Sicherheit des Hotelgastes, der jedes Mal, wenn er zurück kommt, durch eine Röntgenanlage muss. Er fährt zwei Kilometer. Wir sind am Taksim-Platz, umgeben von hunderten von Taxis, von Bussen und Fußgängern. Fahrspuren sind nicht mehr erkennbar. Stillstand und ich steige aus. Es hupt wie es nur hupen kann.

Shopping-Meile

Hier leben 7000 Menschen auf einem Quadratkilometer. Auf der bergab verlaufenden Einkaufsstraße İstiklal Caddesi, die sich bis zum Tünel-Platz dreißig Spazierminuten ausbreitet, ist die Gewerbe- und Geschäftsdichte unzählbar, rechnet man die Kastanien, Brezel und andere fliegende Händler mit. Die Seitenstraßen bestehen aus Restaurants. Samstagnacht muss man sich hinein quetschen, will man sich in der Atmosphäre baden. In Wohnhäusern befinden sich Cafés und Discos, Live-Musik-Clubs und alles Mögliche auf den verschiedenen Etagen. Man muss es wissen, sonst findet man nichts. Es gibt kein Time-Out, keinen Coolibri. Unten am Tünel angelangt, erlebt man die kürzeste und kurioseste U-Bahn der Welt. Mit einem Chip für einen Euro gelangt man ein paar steile Meter tiefer zur Galatabrücke, die in eine andere Welt führt. Täglich, ich glaube non-stop, sieht man dort hunderte von Anglern, die angeln. Ob und wie viel Beute sie machen, konnte ich nicht erkennen.

Leerstand als Galerie

Auf wundersame Weise finde ich die Ausstellungsräume des Festivals: In einer Nebenstraße in einer ehemaligen Bank. Interaktive Kunst, Festivalcafé und Ayshe. Endlich kann ich Fragen stellen. Wir laufen und laufen – zurück zum Taksim-Bereich. Ich besichtige ein neues Theater, wo sich junge Frauen mit Decken zu einem Workshop einfinden. Wir essen und ich erfahre alles über das Verhältnis Kulturhauptstadt Istanbul und die Off-Szene. Spät besteige ich ein Taxi und nenne das Hotel. Der Fahrer ist ratlos. Er kennt es nicht. Warum mich das zunächst freut, kann ich nicht sagen. Vielleicht, weil es zeigt, dass die Gäste „da oben“ nicht mit dem normalen Taxi fahren, sondern mit hauseigenen Bentleys? Ich sage „Besiktas“ und seine Augen funkeln. Das Hotel liegt in der Nähe des Fußballstadions von Besiktas Istanbul und ich erwische eine Fan, sowie alle Fans sind, aber eben von einer bestimmten Istanbuler Mannschaft aus den ebensolchen Stadtteilen.

Blick von oben

Für die Unterbringung eines Gastes aus der Ruhrregion hat man Gelder von Istanbul2010 erhalten. Das Festival selber, also die Künstler, mussten sich später mit ein paar Kopeken zufrieden geben. Ich setze mich in die Lobby und schlürfe einen Cappuccino für acht Euro. „Das ist für den Blick von oben nach unten“, denke ich und zahle mit dem Lächeln eines Wohlhabenden. Lügenlächeln also. Ich fühle mich sicher, lege mich in mein Doppelbett, rauche nur in einem der beiden Bäder. Am nächsten Tag treffe ich Ekmel und Özlem, streife durch Galerien, Nebenstraßen und gewöhne mich an den Sound aus Hupen, Trillerpfeifen und Polizeisirenen – eine Großstadtsymphonie. In den Basaren will mir einer Parfüm verkaufen.

Neue Besuche

Ein Jahr später erfolgt der nächste Besuch, naturgemäß in einem normalen, kleineren Hotel in der Nähe der Galatabrücke. Die Kulturhauptorganisatoren haben ihre Versprechen nicht eingehalten, das Festival findet statt, aber mit weniger Geld. Überall ist Rauchverbot, es gibt noch mehr Taxen und noch mehr Stillstand. Istanbul hat immer noch keine Oper. Bombenalarm wird – wie immer – unspektakulär behandelt. Die Menschen gewöhnen sich an Rotweißband um einen Koffer oder das plötzliche Erscheinen von zahlreichem Sicherheitspersonal. Ob unsere Kooperationen Zukunft haben, liegt auch an den türkischen Kultur-Behörden, die so weit entfernt sind von der aufkommenden Off-Kultur wie der Angler auf der Brücke von Hochseefischerei.

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