Ortserkundungen in Litauen

Unbewohnbare Apartmenthäuser, leer stehende Einzelhäuser, ein Wasserturm ohne Funktion, ein alter Kantinentrakt, ausgerupfte Funktionsbereiche, wilde Natur, die sich neues Terrain greift. Klingt so, als redeten wir hier über einen Stadtteil einer Ruhrgebietsstadt. Es handelt sich aber um den Ort Birstonas in Litauen, unweit der zweitgrößten Stadt des Landes, Kaunas. Die Performance Gruppe artscenico aus Dortmund setzt dort ihren dritten Teil des europäischen Projektes „Sanctuary“ um. Ort ist ein ehemaliges Sanatorium mit all seinen Nebengebäuden, die seit Jahren leer stehen, und das mitten in einem Wald, eine Blair Witch-Project Situation.

Rückzugsort

Durch die undurchdringbare Realität, den Alltag, der uns technisch von allen Seiten überholt, braucht der Mensch Orte des Rückzugs, selbst, wenn er es noch nicht begriffen hat in seinem täglichen Gewusel. Ähneln sich diese Orte in Europa, gibt es völlig unterschiedliche Vorstellungen von Rückzug und Rekreation? Diese Fragen beschäftigen die Künstler aus Dortmund, Essen, Gelsenkirchen und Köln. An Orten in Litauen, Polen, der Türkei und zum Abschluss im Ruhrgebiet werden entsprechende Performance-Reihen konzipiert und umgesetzt, derzeit eben in Litauen.

Währung ist der Liter, die Sprache hat keine erkennbaren Anlehnungen und das Wetter ist nordisch. Wann fährt man schon mal aus der Sonne des Ruhrgebiets in die kühle Feuchte des Nordens? Auch hier herrscht an den Landstraßen der hingestülpte Supermarkt für alles, auch hier sind die Tankstellen ortsfremde Gebilde, neuer als alle Häuser im Umkreis. Die Landschaft ist grün, aber nicht saftig, die Menschen sind freundlich aber nicht umarmungsbedürftig. Im Hotel am Rande des ehemaligen Sanatoriums, das bald neu gestaltet und umgebaut wird, läuft täglich nur eine CD, ob zum Frühstück, mittags oder abends. Diese Musikmischung scheint Konzept zu sein, aber niemand vom Personal stört die Rangfolge der Stücke, zwischen „House oft he rising sun“, „Strangers in the night“ und „The power of love“. Um 22.00 Uhr ist Ende, und zwar mit allem, mit Konsum, Musik, mit Licht und Tür. Und da muss sich der Ruhrgebietler, der es gewohnt ist, sich die Nacht um die Ohren zu hauen, ordentlich umstellen.

Jahr des Baumes

In Europa wird das Jahr des Baumes begangen und an vielen Orten Kontinent-weit sieht man die großen Hinweisschilder der EU, dass „hier Natur begradigt, geschützt oder aufgebaut wird“, speziell eben der Wald. Auch hier in Birstonas werden Wege ausgebuddelt und Laternen angebracht. Das gesamte Gelände wir saniert, um dann wieder als Sanatorium zu funktionieren. Eine Bank hat das Grundstück gekauft und artscenico darf, zusammen mit litauischen Künstlern, diesen Ort zu einem Natur-Kunstraum machen, wenn auch nur für ein Wochenende.

Workshop und Waldlauf

Samir Akika, der Choreograf, der seit Jahren unterwegs ist, Jugendlichen das Tanzen ans Herz zu legen – im letzten Jahr noch in Dortmund erfolgreich – ist auch hier und bewegt eine Gruppe Mädchen aus dem Dorf. Im Kulturzentrum wird geschwitzt. Die Tänzerinnen aus dem Pott hängen an verrosteten Teppichstangen und Schaukeln, laufen über Glas, verschwinden hinter Bäumen, liegen auf feuchtem Gras. Spaziergänger mit ihren Huskies staunen und vom Dach einer fünfstöckigen Ruine rufen Jugendliche „Fuck“. Wir sind also doch mitten in der Welt, wenn auch im baltischen Teil dieser. Alles normal. Und dennoch liegt der Fluss und seine Vögel in einer Stille in der Landschaft, die man in der Heimat von Schalke 04 nicht mehr findet. Hier kommen Menschen her, die per Heilwasser und Stille zurückfinden wollen in etwas Ruhe.

Am Samstag wird der Wald, werden die Ruinen für eine Zeit lang zu einem Ort der künstlerischen Intervention, ist die Umgebung noch einmal Star einer Betrachtung. Danach kommen die Bagger und Bristonas erhält ein neues, schickes Sanatoriuk mit allem Pipapo. Die Idylle wird gebaut.

Verloren in Tradition – Litauen im Parcours

Er war als Lichttechniker in Dortmund und hat dort an einem „eigenartigen“ Ort gearbeitet. Ihre SChwester ist mit einem Deutschen verheiratet. „In der Nähe von Oberhausen“, sagt sie. „Guten Tag! Ich studiere Deutsch und war schon auf Zeche Zollverein“, sagt eine junge Litauerin. Egal, wohin wir uns bewegen, irgend jemand aus dem Pott hat damit zu tun. Der Ruhrgebietler ist also allgegenwärtig, wenn auch machal über Umwege. Und diese „eigenartige Location“ war Phoenix West. Hier aber, in dem kleinen Kurort Birstonas, gibt es um etliches eigenartigere Location, den Wald mit den seit Jahren leer stehenden Kurgebäuden, eine Geisterstadt, umgeben von Nadelhölzern, bevölkert von unzähligen Vogelarten, entlang der Memel, auf denen die Enten nachts schnaken, als wäre es die größte Entenkirmes weltweit.

Festival für Grün

Hier findet ein Festival statt, das sich „Greenparkas“ nennt. Es bschäftigt sich mit Kunt und Natur, bietet Workshops an, wie man gutes Gemüse erkennt und lässt gleichzeitig nebenan im Kulturzentrum ein Stück für Jugeniche zum Thema Ökologie.
Hier ist die Leiterin des Tourismusbüros, Henrietta, die Hauptfigur der örtlichen Aktivitäten. Und hier zaberten die Künstler von artscenico, zusammen mit litauischen Medienkünstlern, eine Nacht der skurillen Poesie. Über 200 Menschen folten dem Aufruf, sich einem Parcours zu widmen. Erst durch den Wald, wo eine Tänzerin hoch auf einem Baum ein griechisches Lied singt, vorbei an einer alten Dame aus dem Dorf, die dort mit ihren Koffern scheinbar schon seit Jahrzehnten auf einen Bus wartet, der nie kommen wird.

Geisterhäuser

Ein altes Holzhaus ist beleuchtet, aber man schaut in Leere. Ein 50-köpfiger Chor steht in einem Säulengang und singt ein litauisches Volkslied. Eine Videoinstallation in einer Halle zeigt atmende Menschen, egenüber beschwört eine Tänzerin eine Trauerweide und bewegt einen Fels, der den Boden erbeben lässt. In der ehemaligen Kantine tanzen Hasen mit Funkenmariechen und jemand läuft über Glas. Es nirscht durch die Nacht. Es wird dunkel und die Lindi-Hoppers feiern vor dem zerfallenen Haus Nummer 16 eine Rock’n’Roll Party, ein Stück weiter hängt ein Wesen an einer Schaukel, als wäre es aus eine Phantasy-Film entssprungen. Zwischen Bäumen steht der örtliche Damenchor und singt ein Abendlied, bevor am Fuss unten ein Drache fliegt, auf dem die Gesichter der Zuschauer projeziert werden – ein fürwahr eigenartiges Ereignis in eigenartiger Kulisse, die es nur hier gibt und so ganz anders ist als die Industriegemäuer des Ruhrgebiets, an denen wir uns schon fast satt gesehen haben.

„Diese Form, Kunst zu präsentieren, kennen wir hier noch nicht“, sagt der Mann, der für die Drachenperformance zuständig ist. Wär schön, wenn man diese Performance irgendwann mal im Pott sehen könnte, auf einem der Festivals – in eigenartiger Kulisse, dem Himmel.