Kulturhauptstadt – kleine Hoffnung im Wahrnehmungsnebel

Für „Kulturpolitische Mitteilungen“, Magazin der Kulturpolitischen Gesellschaft, März 2011

Das war eine gute Idee! Das Ruhrgebiet – von schlechtem Image geschädigt, geschichts-gebeutelt, gleichzeitig fremd und lokal bestimmt, arbeitslos und krisengeschüttelt – wollte an die Seite der großen Kulturmetropolen rücken und Kulturhauptstadt Europas werden, eine davon zumindest. Eine Stadt ging voran: Essen und sein damals noch „umtriebiger“ Kulturdezernent Dr. Oliver Scheytt. Das konnte man beinahe als subversives Vorhaben bezeichnen (umtriebig kann man Englisch mit subversive übersetzen). Es sollte nachhaltig, bürgernah und großartig sein. Die durchaus ansprechende und neugierig machende Bewerbung war zu Recht erfolgreich.

„Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ war das Motto der Bewerbungsschrift. Da war die Rede von „Kathedralen der Industrie” (geprägt von Dr. Gerard Mortier anlässlich der ersten RuhrTriennale), von „neuer Kulturwirtschaft“, „Urbanität, Identität und Integration“ und „Mut zum Experiment“, von „breiter bürgerschaftlicher Ebene“, „Zukunft der Leichtigkeit“, vom „regionalen Charakter einer Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010“. Wow!

Eine GmbH wurde zur Kommandozentrale ausgepolstert. Die Teilzeitdirektoren und ihre Unterunterbeauftragten nahmen fleißig ihre Arbeit auf. Fritz Pleitgen wurde kurz vor dem Ruhestand Oliver Scheytt zur Seite gestellt.

Kurzes Aufmucken der Szene

Anträge wurden entgegen genommen. Man wollte die Antragsflut der Linzer (Kulturhauptstadt 2009) toppen. Es mussten viele sein, damit die Welt sehen konnte, wie kreativ die Region ist. Über 2500 Anträge waren es schließlich, Beweise für die Lust an der Kulturhauptstadt. Auf sogenannten Foren trafen sich kulturinteressierte Bürger und viele freie Kulturschaffende, vom Kleinstkünstler bis zum pensionierten Dichter, vom Internetfreak bis zum Holzknüpfer. Viele regten sich auf und ab, machten Vorschläge – von abstrus geheimnisvoll bis zu ewig provinziell-gestrig. Alles sollte von der Ruhr2010 aufgesogen werden, verarbeitet, begutachtet und befunden.

Aufgrund fehlender Kommunikation begann es, in der Szene zu grollen, einer Szene, die eigentlich als kompakte Kraft noch nie spürbar war. Schließlich kam die erste Bewilligungswelle für Projekte, die sich mit den europäischen Partnerstädten des Ruhrgebiets beschäftigen sollten. Twins2010 bescherte vielen „freien“ Projekten einen Zuschuss und wurde ein schillernder Reigen von allem Möglichen.

Nicht genug für alles

Plötzlich stellte man fest, dass es doch zu wenig Geld sei, die gesteckten Ziele alle zu erreichen. Eine Erkenntnis, die man angesichts der Zahlen anderer Kulturhauptstädte eher hätte gewinnen können. Liverpool und Linz schwammen im Vergleich zum Ruhrgebietsbudget geradezu in Kohle. Vilnius hatte man allerdings den Hahn fast abgedreht. Finanzkrise. Angesichts dieser bescheidenen Mittel für die gesamte Region, wurde ein Programm auf die Beine gestellt, dessen Vielfalt und Umfang Schwindel verursachte. Wo geht man wann warum und mit wem hin? Eine ICE-Fahrt von München nach Hamburg reichte nicht aus, um die Programmbücher zu durchdringen.

Exzellenzen

Bochum wollte die Stadt des Wortes werden und hat jetzt mit Anselm Weber jemand, der dem Wort Tagen folgen lässt. Dortmund konzentrierte sich auf die Musik und das „U“. Beim „U“ öffnet sich der Mund und damit hat man eine Verbindung zur ehemaligen Stadt des Bieres. Der Reigen der vielen Eröffnungen war kurioserweise erfolgreich, zog sich als Werbegag durch das Jahr und hat immer noch kein Ende. Danach wird in Dortmund vorläufig nichts mehr angezettelt, keine Perspektive also für etwaige neue Aufbrüche.

Die Stadttheaterdichte ist hoch in der Region, die der sogenannten alternativen Spielstätten eher nicht. Das ist ein Manko, an dem man aber offensichtlich nicht drehen wollte, denn es hätte Folgekosten, die den Kommunen als bluttriefendes Damokles-Schwert drohten. Ein paar Stadttheater arbeiteten zusammen, machten sich an die Odyssee und feierten es als Innovation. Das Festival „Theater der Welt“ wurde in Mülheim und Essen platziert, ein Besuch aus dem Anderswo mit Null Nachhaltigkeit. Natürlich hatte keine hiesige Person die Programmplanung übernommen, sondern eine sicher kompetente Frau aus Belgien, Frye Liesen. Aber auch hier gab und gibt es Festivals, die dies gemeinsam hätten stemmen können, zum Beispiel die Fidena in Bochum und off limits in Dortmund, beide mit Welttheater vertraut und in besten Netzwerken unterwegs.

Man wollte das Ruhrgebiet mit fremden Applikationen neu erfinden. Die Heilsbringer sollten wieder mal von außen kommen. In manchen Fällen ist das durchaus fruchtbar und notwendig, vor allem dann, wenn sich schwere Beratungsresistenz Raum greift.

Metropole der Kreativwirtschaft

Der Region wurde der Begriff „Metropole“ aufgesetzt. Das war wohl der Sinn – ihn aufzusetzen, auf dass er in aller Munde ist. Wenn man also durchgehend darauf pocht, gilt man als Spinner und was braucht die Kunst und die Gesellschaft? Spinner. Wenn dann am Ende aus Metropole was anderes wird, z.B. ein RAUM, dann ist doch was gewonnen und ohne die Spinner wäre es immer noch ein Zimmerchen.

Ein anderer diffuser Begriff ist „Kreativwirtschaft“, der inhaltlich kaum zu fassen ist, vielleicht eine Idee, eine virtuelle Aussicht. Um in Europa eine große Rolle spielen zu können, wurde er zum Leitmotiv. Aus einem Einzelhändler wird eben ein Kreativer, sobald er seine Kleider aus Feuerwehrschläuchen herstellt. Internet-Autodidakten werden zu Webdesignern und Lay-Out-Freaks – sind also Kreative. Es wird derzeit so viel gelayoutet wie nie zuvor. Vieles davon verschwindet in der Welt, aus der es kommt – der virtuellen.

Dieter Gorny hat dafür vielleicht den richtigen Ansatz. Hatte er auch die richtigen Ansprechpartner in dieser Region, in der z.B. nur eine Handvoll Sponsoren das Portemonnaie zücken? Da hat ja schon Gerard Mortier gar garstig-lustige Erfahrungen gemacht. Den wollte übrigens keiner, als es kurz darum ging, doch einen Generalintendanten für Ruhr2010 zu etablieren.

Pott-Patriotismus

Wenn man sich als Eingeborener des Ruhrgebiets jahrzehntelang einer Struktur gegenüber sieht, deren Beschreibung mit „provinziell“ einer Schmeichelei nahe kommt, dann wird jedes „Pflänzchen Hoffnung“ auf kluge Veränderung argwöhnisch beäugt. Das Ruhrgebiet wurde nur durch Arbeitsstellen zusammengehalten. Die Kultur – besser die Kunst – wurde der Arbeiterschaft gönnerhaft vor die Tür gestellt. Man möge sich bedienen, Kunst gar gegen Kohle. Das war die Währung. Der Schweiß verdünnisierte sich, Strukturwandel war angesagt und schwelt seit Jahrzehnten über dem Revier. Die Kommunen zogen sich ihre Hemden an, die bis heute an ihnen kleben wie feinster Kohlenstaub.

Dennoch sind neue Netzwerke entstanden. Man soll sich ja heutzutage vernetzen bis man nichts mehr sieht. Diese Netzwerke zwischen den Kommunen und kulturellen Akteuren in der Region sollten weitergeführt werden, und zwar öffentlich sicht- und spürbar. Dazu bedarf es auch einer moderierenden Institution. Ob die Kultur-Ruhr GmbH die geeignete Institution dafür ist, wird sich ggf. noch zeigen.

Die soziokulturellen Zentren, freien Theater und freien Einrichtungen im Ruhrgebiet müssten dazu selbst aus dem Quark kommen, könnten z.B. eine regionale Produktionsgemeinschaft gründen. Einmal pro Jahr könnte eine gemeinsame künstlerische Produktion geplant und durchgeführt werden. Dazu bedarf es einer klaren Idee, entsprechende Strukturen und finanzielle Ressourcen. Das könnte zum Beispiel die RuhrTriennale wieder zu ihrem Ursprung zurückführen.

So ein Produktionslabel wäre eine Möglichkeit, nach außen als „stark“ aufzutreten. Es geht um eine freie Produktionsweise, lokal verwurzelt und europäisch konkurrenzfähig ist. Dazu gehört auch der Raum, ob im Freien oder in einem Theater oder einer Halle. Ob sie sich nun international platzieren will oder sich der Region widmet, ist nicht so sehr von Belang. Während Ruhr2010 ist zum Beispiel die Street-Art-Show „Urbanatix“ hier entstanden, allerdings durch persönliches Engagement der Macher.

Kulturelle Reise durchs Revier

Als Autor, an Ruhr2010-Projekten beteiligter Künstler, als Zuschauer und Beobachter war ich unterwegs, um als nomadisierender Chronist jeden Tag des Jahres 2010 zu würdigen. Im Mittelpunkt standen die 53 Local-Hero-Städte, die alle besucht wurden, mal zu Beginn, mal mittendrin, meist tagsüber, um Stimmungen aufzunehmen, Eingeborene zu treffen, Ausstellungen zu besuchen, Kaffeetafeln und örtlichen Highlights beizuwohnen.

Tagebuch

Aus 300 Seiten Material, kurz gefasst und selektiv: „Nach einer Silvesterfeier am Dortmunder Borsigplatz, warte ich vergeblich auf Emails und Anrufe, die mir Glückwünsche zur Kulturhauptstadt übermitteln. Nichts. Aus dem Weltall wird man es jetzt sehen – das Leuchten über dem Revier. Antikrisenfeuerwerk. Kaum hat das Jahr begonnen, kommen die ersten Meldungen zur Krise. Bankrott droht allüberall, Schulden Oberkante Unterlippe. Ich fahre durch die Heimat, erlebe eine „Niederrheinische Kaffeetafel“ in Dinslaken mit Rüben- und Apfelkraut, stelle fest, dass ich wegen der insgesamt unüberschaubar vielen Veranstaltungen ein Jahr der verpassten Gelegenheiten erleben werde wie nie zuvor. „Mit Freude etwas verpassen, was man vielleicht geliebt hätte.“ Ich verfolge die Route der Wohnkultur. Oft fällt der Begriff „einzigartig“. Das gehört wohl zum eingeübten Sprachgebrauch von Ruhr2010 wie das Wort „Metropole“. Ich fahre Schiff und staune über das Projekt Kulturkanal. Ich höre von guten Ideen wie „Die Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen sucht ausrangierte Bettlaken.“ Auf Volksfesten sieht man local heroes als Stelzenläufer, serbische Folkloregruppe, russischen Frauenchor und alawitische Kuafföre.

Ich erlebe den unerwarteten Erfolg der Schachtzeichen, der Luftballontage im Revier. Gelbe Ballons steigen auf 80 Meter Höhe, eben davon zeugend, wie was und wo es mal war, das Bergmannsglück. Es kommt alles noch einmal zum Zuge, was diese Region an Klischees geschaffen hat – jetzt sind es Ehemalige in ehemaligen Uniformen an ehemaligen Arbeitsplätzen der ehemaligen Arbeitgeber. Ich promeniere auf der Duisburger „Strandpromenade“ in Ruhrort. Es spielt die Event-Firma „La Fura dels Baus“. Währenddessen wird das „U“ zum wiederholten Mal eröffnet, wie sich überhaupt das Eröffnen wie ein roter Faden durchs Jahr zieht. Bin gespannt, wie viele Schließungen den Eröffnungen folgen werden. Am „U“ staunt über die „Fliegenden Bilder“ von Adolf Winkelmann, einer wahrhaft einmaligen Einrichtung von Weltformat.

Der „Day of Song“ ist mein erster Besuch in der Veltins-Arena auf Schalke. 50000 Fans des Ruhrgebiets, grandiose Stimmung, es kommt nicht zu Ausschreitungen. In Gelsenkirchen spielt am Bahnhof eine Roma-Band. Es gibt auch Bauchtanz. Die Migranten retten die Chose. Ich stelle mir vor, ich wäre als Gastarbeiter in Makedonien und man würde mich nötigen, deutsche Volkstänze aufzuführen. Ein heikles Thema.

Sonntag, 18. Juli 2010. Wer nicht dabei war, der wird eines Tages von seinen Kindern gefragt, ob er denn nicht davon gewusst habe. Das sei doch der Tag gewesen, als die Menschen auszogen, ihre Heimat zu erkunden – eine Straße. Das Stillleben auf der A40 ist tatsächlich der Höhepunkt des Jahres. Hier sorgt die Bevölkerung dafür, dass eine Veranstaltung zu einem Überraschungs-Ei mutiert. Sehnsucht breitet sich aus – nach einem gemeinsamen Ort. Das war die Messe, ein Massenritual. Und sie bricht über uns herein, die Nachricht aus Duisburg. Kurz nach dem sonnigen Stillleben folgt eine dunkle Liebesparade, bei der Hundertausende nichts als Party wollen. Wer hinfällt, wird überrannt. Die Love-Parade, ein Image-Projekt.

Im August erlebe ich „Die Schönheit der großen Straße“ am Wattenscheider Dückerweg. Es ist eine Mischung von Kunstprojekt und prolliger Autoverhübschung – sonderbar cool. In Herne singen Gospelchöre im Bayernzelt der Cranger Kirmes. In einer Kirche in Kamen gibt es Kreuze in einem Supermarkteinkaufswagen für je einen Euro – Kamener Kreuze also. Das Festival MELEZ findet dieses Jahr in Zügen statt. Es sind intime, lehrreiche und unterhaltsame Fahrten mit verschiedenen Motti und Gastgebern.

Rückblicke und Prognosen

Im Dezember begann die Zeit der zahlreichen Rückblicke. Mehr Rückblicke als Vorschauen. Der Mensch blickt lieber zurück als nach vorn. Der WDR merkt, dass Ruhr2010 stattgefunden hat. Es gibt unzählige Sendungen, die sich mit dem Rückblick beschäftigen. Man soll kritisch sein. Das ist eine deutsche Sache: Wer lobt, macht sich verdächtig. Die Firma Ruhr2010 muss aufgelöst werden. Da es keine klare familiäre Nachfolgeregelung gab, stritten sich die politischen Erbnehmer über den Nachlass. Die Tante RVR scharrte mit den Stulpenstiefeln, die Kultur Ruhr GmbH wedelte mit einem Fähnchen, die Kommunen sitzen mit einem Hut am Straßenrand und die Vernachlässigten bluten aus dem Ohr. Was machen eigentlich die 53 Kommunen ab 2011 miteinander? Ist die Scheidungsklage schon eingereicht? War es eine Lebensabschnittsverbindung? Duisburg wird wieder Rheinscheine sein und Dortmund das Herz Westfalens. Wie viel Gemeinsames bleibt der Gemeinde? Es gab 53 Kulturhauptstadtbeauftragte der Kommunen, die sich anfangs zu verstecken schienen, um nicht dauernd ihre leeren Hosentaschen herzeigen zu müssen. Was machen sie jetzt?“ (aus Dman’s Tagebuch)

Aussagen zur Nachhaltigkeit können erst in zwei- drei Jahren getroffen werden, sagen viele.